Immer öfter haben Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen. Häufig brechen familiäre Strukturen auseinander und verlangen den jüngsten Familienmitgliedern viel ab. Reizüberflutung auf der einen Seite und der Zwang zu Eigenverantwortung und Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen auf der anderen Seite können bei sensiblen jungen Menschen zu Überforderungen führen. Depressionen, Aggressionen und Essstörungen können die möglichen Folgen sein. Doch welche Hilfestellungen können Eltern leisten? Und welche Vorteile kann eine stationäre Behandlung bieten? Antworten auf diese und andere Fragen gaben am 23. Oktober 2014 vier ausgewiesene Spezialisten im Chat und am Telefon.
Depressionen, Aggressionen, Essstörungen: Reifungskrisen sollten ernst genommen werden
Prof. Dr. med. Claudia Mehler-Wex: Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Chefärztin der Hemera-Klinik – Privatklinik für Seelische Gesundheit für Jugendliche und junge Erwachsene in Bad Kissingen.
Prof. Dr. med. Marcel Leon Romanos: Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universität Würzburg.
PD Dr. phil. Christina Schwenck, Psychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Leitende Forschungspsychologin in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Frankfurt a. M.
Wolfgang Deimel: Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut. Leitender Psychologe in der Hemera-Klinik – Privatklinik für Seelische Gesundheit für Jugendliche und junge Erwachsene in Bad Kissingen.
Die eigene Identität finden, Bedürfnisse erkennen und gleichzeitig in der Gruppe anerkannt und beliebt sein – das ist die Herkulesaufgabe, der sich jeder Heranwachsende gegenübersieht. Nach der Erfahrung von Professor Dr. med. Claudia Mehler-Wex fallen die Reaktionen auf die Unsicherheit des Heranreifens unterschiedlich aus. Während sich einige bewusst provokant von ihren Eltern abgrenzen, Streit auslösen und unzugänglich sind, orientieren sich andere am Außen, passen sich an, verleugnen sich selbst. „Wenn sie es mit diesen Verhaltensstrategien übertreiben, leiden sie an Depression oder entwickeln eine Angststörung“, erläutert die Chefärztin der Hemera-Klinik, die sich auf psychische Erkrankungen bei Heranwachsenden bis etwa zum 27. Lebensjahr spezialisiert hat.
Lähmende Angst
Häufig treten Ängste in kritischen Situationen, wie Prüfungen zutage. Allerdings müssen sie nicht gleich auf eine Störung hinweisen, erklärt PD Dr. phil. Christina Schwenck. Ein mittleres Angstniveau steigere sogar die Leistungsfähigkeit, so die leitende Forschungspsychologin. „Ist die Angst sehr stark ausgeprägt, tritt der gegenteilige Effekt ein: Man fühlt sich gelähmt, kann sich nicht auf den eigentlichen Lernstoff konzentrieren und bekommt die negativen Gedanken an ein mögliches Versagen nicht mehr in den Griff“, so Dr. Schwenck.
Strategie der Vermeidung
In Belastungssituationen neigen Kinder und junge Erwachsene zu Vermeidungen, sie schwänzen die Schule oder die Universität. „Dies kann so gravierend werden, dass eine ambulante Behandlung nicht mehr ausreicht“, betont Wolfgang Deimel. Aufgrund der emotional aufgeladenen Situation innerhalb der Familie könne zu Hause oft nicht mehr konstruktiv darüber gesprochen werden, sagt der Diplom-Psychologe und rät, mit einer stationären Therapie die nötige Distanz zu schaffen.
Gewicht als Seelenspiegel
Um Unsicherheiten beim Erwachsenwerden vermeintlich in den Griff zu bekommen, versuchen vor allem junge Frauen, mit Magersucht oder Bulimie Kontrolle über ihren Körper auszuüben. Ebenso könne jedoch auch eine erhebliche Gewichtszunahme Ausdruck einer psychischen Belastung sein, gibt Professor Dr. med. Marcel Leon Romanos zu bedenken. „Wenn der Alltag nicht mehr gelingt, kann eine depressive Erkrankung dahinter verborgen sein“, erklärt der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Stationäre Therapie – ganzheitlicher Ansatz
„Das zentrale Element all dieser Störungen, egal welche Diagnose letztendlich gestellt wird, ist die Tatsache, dass sie auf dem Boden einer Reifungskrise entstanden sind“, betont Professor Mehler-Wex und erläutert die Vorteile eines stationären Aufenthalts: „Die jungen Menschen können sich Zeit für sich nehmen, sich regenerieren und intensiv daran arbeiten, ihren eigenen Weg zu finden.“ Im Rahmen einer umfassenden, ganzheitlichen Therapie werde nicht nur die psychiatrische Grunderkrankung behandelt, sondern auch auf Familienthemen eingegangen.